Walter J. Lindner hat lange Zeit als Grenzgänger zwischen den Welten verbracht. Als Diplomat in Indien und weiteren Ländern ist ihm klar geworden, wie groß unsere blinden Flecken sind, was diese Länder und den globalen Süden insgesamt angeht. Sein Buch widmet sich mit Indien dem Land, das er 1977 als Backpacker das erste Mal bereist hat und in das er 2019 als Botschafter zurückkehrte.  

Er gibt besondere und sehr persönliche Einblicke in ein Land, das seit einiger Zeit als strategischer Partner, gigantischer Absatzmarkt, Fachkräftereservoir, Innovationsmotor und IT-Hub umworben wird wie wenige andere – auch von Deutschland – und dass immer öfter als Stimme des globalen Südens hervortritt. Aufgrund der schieren Größe des Landes und seiner wirtschaftlichen und innovativen Kraft wird diese Stimme immer hörbarer im Konzert der internationalen Politik und der globalen Wirtschaft. Indien vereint aber auch Extreme wie kein anderes Land: ein Leben in mehreren Jahrhunderten zugleich, aber auch auf dem Weg in die Zukunft. Unglaublicher Reichtum und bedrückende Armut unmittelbar nebeneinander. Weltweit größte Demokratie und erstarkender Hindu-Nationalismus. 

Das Buch ist ein kenntnisreiches und nachdenkliches Plädoyer für den Blick über den Tellerrand. Von Indiens Vielgestaltigkeit und seinem mutigen Aufbruch in die Moderne kann der Westen viel lernen – davon ist Walter Lindner überzeugt: Digitalisierung, Widerstandsfähigkeit und Flexibilität, Innovation und Risikobereitschaft, Pragmatismus und Neugier – all können wir uns im Westen abschauen. Voraussetzungen sind allerdings eine Haltung des Respekts, eine gewisse Demut und Bescheidenheit sowie Offenheit für andere Perspektiven als unsere eigene. Wir sollten nicht vergessen, dass auch wir Deutschen auf dem Boden einer kolonialen Vergangenheit stehen, deren Folgen bis heute nachwirken. Wenn das gelingt, kann Indien als Brücke zwischen dem »alten« Westen und dem globalen Süden wertvolle Impulse liefern.